„Gegen Kommissar M.* war Schimanski ein Langweiler“, sagt der Sprecher der IG Heimkinder nach dem Interview mit einem wichtigen Zeitzeugen bei der Aufarbeitung der grausigen Vergangenheit des Kinderheimes “Marienfrieden”. Er kämpfte im Interesse gequälter Kinder nicht nur gegen sprichwörtliche Windmühlen. Er legte sich mit der Dorfprominenz, der Politik und sogar mit seinen eigenen Vorgesetzten an. “Alle hatten damals nur eines im Sinn: Die Verbrechen an den Kindern im Heim Marienfrieden zu vertuschen.”, sagt der inzwischen pensionierte Kriminal-Hauptkommissar heute.
Während man sich beim beim Betreiber des Arnsberger Kinderheimes Marienfrieden weiter in Schweigen hüllt und nicht gerade behilflich ist, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit und auch im Verfahren um Entschädigungen der Opfer lieber eine renommierte Anwaltskanzlei mit der Abwehr von Ansprüchen beauftragt, statt mit Betroffenen zu sprechen, hat die IG ihre Bemühungen bei der Suche nach Zeitzeugen fortgeführt.
Nach einigen Gesprächen ist es gelungen, jenen Kommissar für ein Interview zu gewinnen, der in den 1970er Jahren die Misshandlungen an zahllosen Heimkindern ermittelte, die in der von der IG “erste Halbzeit” genannten Periode der Horrorgeschichte gequält wurden. Diese Aufteilung rührt aus der Tatsache, dass die IG derzeit die Nachkriegsgeschichte der Einrichtung untersucht. In dieser Zeit gab es eine erste Periode, die bis etwa 1975 andauerte, in der Kinder brutal misshandelt wurden. Die zweite Periode begann direkt im Anschluss mit dem Wechsel der Heimleitung. Fortan wurde das Heim eine Art Selbstbedienungsladen für perverse Kinderschänder. Dafür sah man davon ab, die Kinder grün und blau zu schlagen, berichten Zeitzeugen übereinstimmend.
Die Ermittlungen von Kommissar M.* begannen relativ spät, im Jahre 1973. Ein Zeitzeuge hatte Anzeige erstattet und von ungeheuerlichen Vorgängen in dem Heim mit seinem gesellschaftlich hoch angesehenen Trägerverein berichtet. Was man den Kindern dort antun würde, sei am besten mit Folter zu beschreiben, berichtete der Zeuge. Kinder würden brutal verprügelt und gedemütigt. Regelmäßig seien die Kleinen gezwungen worden, Erbrochenes zu essen. Wenn mal eines der verängstigten Kinder ins Bett gemacht hatte, würde es auf grausame Art öffentlich an den Pranger gestellt.
Der erfahrene Kriminalist war nach eigenen Angaben geschockt und suchte Tage später das Gespräch mit der damaligen Vorsitzenden des Trägervereins. Er wollte nicht gleich den Ruf der gesellschaftlich angesehenen Organisation zerstören und deshalb bei der “Dame aus bestem Hause” anfragen, ob man die Ermittlungen unterstütze. Das Gespräch in der feinen Villa nahm daraufhin ein unschönes Ende: Der Polizist wurde kurzerhand vom Hausdiener rausgeworfen.
Was dann folgte, lässt sich gut mit dem Wort Hexenjagd beschreiben. Der Polizist mit dem großen Herz und der festen Absicht, Gerechtigkeit für die Kinder herbeizuführen, wurde massiv in seiner Arbeit behindert. Man drohte ihm sogar, ihn in einer ferne Stadt zu versetzen, wenn er seine Ermittlungen gegen den Verein nicht einstelle.
Ein Polizist in einem Rechtsstaat lässt sich von solchen Leuten nicht einschüchtern, dachte sich Herr M. wahrscheinlich und suchte die Unterstützung der großen Politik. Ein alter Schulfreund war zwischenzeitlich in bester Position in einem Ministerium. Er sorgte schließlich dafür, dass die Ermittlungsakte unter Beobachtung gestellt wurde. Der Weg für umfangreiche Ermittlungen war jetzt aus Behördensicht frei. Jetzt erlebte der Kriminalist die nächsten Herausforderungen.
Ein hoher Kirchenfunktionär ein gewisser Doppeldoktor X.* versuchte die Vernehmung der Betroffenen zu verhindern. Schließlich waren die Kinder aber mutig genug, dem Ermittler zu verraten, dass sie in Anwesenheit des Kirchenmannes nichts Aussagen könnten. So gelang es schließlich, mit den Betroffenen allein zu sprechen und die grausamen Details aus ihrem Alltag zu dokumentieren.
Die offenbar gut organisierten Behinderungen der Ermittlungen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch keineswegs vorbei. Immer wieder wurden wichtige Unterlagen zurückgehalten und Aussagen verweigert. Dies gipfelte nach Angaben des Ermittlers in dem Fall eines ungeklärten Todesfalles. Als der Polizist davon erfuhr, dass Ein Kind zu Tode gekommen war, suchte er den Arzt auf, der den Totenschein ausgestellt hatte. Als dieser sich weigerte Auskunft zu erteilen, erwirkte der Ermittler einen Durchsuchungsbeschluss. Als er mit dem Gerichtsbeschluss in die Räume des Arztes zurückkehrte, waren die Unterlagen verschwunden.
Schließlich hatte der Ermittler genug Material gegen die Verantwortlichen des Heimes gesammelt. Er lieferte seine Arbeit bei der Staatsanwaltschaft ab, die schließlich Anklage beim Arnsberger Landgericht erhob. Angeklagt wurde die damals tätige Heimleiterin. Das Verfahren hatte einige turbulente Tage. Als der Staatsanwalt die lange Anklageschrift vorlas und die grausamen Details der Kinderquäler vortrug gab es wütende Zwischenrufe aus den Reihen der zahlreichen Prozessbeobachter.
Das Verfahren endete mit einem Freispruch der Heimleiterin. Das Gericht fand es offenbar nicht so schlimm, was den Kindern angetan wurde. Sinngemäß hieß es in der Begründung, die Angeklagte habe es halt nicht besser gewusst und die Methoden seien eben so üblich. Die offenbar mutlose Staatsanwaltschaft hielt es damals nicht für nötig gegen dieses Urteil vorzugehen und so hatte das beschauliche Städtchen Arnsberg einen handfesten Justizskandal. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass der damalige Chef der örtlichen Staatsanwaltschaft dem Trägerverein und dessen Verflechtungen mit den örtlichen Industriellen nahestand. Er habe deshalb die Überprüfung des Urteils durch eine Revision verhindert. Beweisen lässt sich dieser Vorwurf derzeit nicht. Die Beteiligten sind zum großen Teil verstorben, die Gerichtsakte liegt gut behütet im Archiv und steht auch uns nicht zur Einsicht zur Verfügung.
Nach dem Freispruch der Heimleiterin ging das Martyrium für die Kinder zunächst weiter. Erst Mitte der 1970er Jahre wurde ein neuer Heimleiter eingestellt. Herr S. – er war von einer Jugendhilfeeinrichtung im Sauerland zu dem Trägerverein gekommen. Bei seinem vorherigen Arbeitgeber war er bereits mit gewalttätigen Übergriffen und sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen aufgefallen. Damit begann im Heim “Marienfrieden” das Zeitalter des organisierten Kindesmissbrauchs.
Es sollte bis in die 1990er Jahre andauern und zahllose Leben zerstören.
*Namen geändert. Die Namen der Zeugen sind der Redaktion bekannt.
Symbolfoto / Archiv