Seit Beginn der Missbrauchs-Enthüllungen in Deutschland war das Kinderheim Marienfrieden mehrfach Thema in Zeitungsartikeln der lokalen Presse. Die Westfalenpost berichtete zweimal und einmal das Westfalenblatt. In den Beiträgen ging es stets um die ältere Geschichte des Heimes. Ein weiterer Beitrag, der uns noch nicht vorliegt, befasste sich mit einem Strafverfahren gegen eine damalige Heimleiterin.
Die Beiträge haben wir hier noch einmal zusammengefasst. Die in allen Beiträgen thematisierte „Aufarbeitung“ die der Heimbetreiber SkF den Journalisten versprochen hatte, hat bis heute nicht einmal (erkennbar) begonnen. Wie in den Pressetexten zutreffend dargestellt, beschränkte sich diese „Aufarbeitung“ darin, den Ehemaligen Kopien irgendwelcher Akten auszuhändigen. In diesen Unterlagen steht erwartungsgemäß nicht, dass am Nachmittag des 1. März das Kind Max Mustermann zuerst grün und blau geschlagen und anschließend vergewaltigt wurde. In den Akten steht, dass Max plötzlich begann, ins Bett zu machen und in der Schule nicht mehr folgen konnte. Warum das so war, interessierte ohnehin niemanden…
Wir als Interessenvertreter erwarten eine professionelle Aufarbeitung aller Verbrechen, die Dokumentation von Tätern und Ursachen, sowie eine professionelle Auseinandersetzung mit der Frage, wie es passieren konnte, dass Kontrollen der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter vollständig versagt haben. Ebenso erwarten wir, dass der Träger überprüfbare Konzepte vorlegt, die solche Verbrechen in der Zukunft verhindern. Ebenso Bestandteil einer Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein Konzept zur Entschädigung der Opfer. Diese auf irgendwelche Gesprächskreise in politisch geführten Amtsstuben oder gar an kirchliche Vertuschungsbeauftragte zu verweisen, hat nach unserer Auffassung nichts mit Aufarbeitung zu tun.
Die Beiträge finden Sie im folgenden Text als Kopie:
Westfalenblatt, 13.04.2010
»Sie ging auf uns los wie eine Furie«
Marlis Weinhold (66) leidet heute noch unter im Heim erlittenen schweren Verletzungen
Von Wolfgang Braun
Bad Driburg (WB). Marlis Weinhold (66) hat im Kinderheim Haus Marienfrieden in Neheim-Hüsten die Hölle erlebt. Sie wird am Donnerstag in Berlin an einer Demonstration ehemaliger Heimkinder teilnehmen, wenn der »Runde Tisch Heimerziehung« tagt.
»Ich habe jetzt noch Alpträume«, berichtet die Frau. Sie ist wegen der erlittenen Misshandlungen bei einer Psychotherapeutin in Paderborn in Behandlung. Die Ärztin hat sich auf die Therapie schwerer Traumata, seelischer Verletzungen also wie sie auch Folteropfer erleiden, spezialisiert. »Dank dieser Behandlung bin ich mittlerweile in der Lage, für meine Rechte einzutreten und über das erduldete Unrecht zu reden. Früher konnte ich nicht sprechen, ohne vor Angst zu zittern. Ich habe erstmals in meiner Ehe erlebt, geliebt zu werden«, sagt sie.
Es war nach ihren Schilderungen die Heimleiterin Gertrud L., die sie und andere wegen jeder Kleinigkeit geschlagen und auf andere Weise gedemütigt hatte. Die Prügelstrafe sei aber nicht nur in konfessionellen und staatlichen Heimen, sondern auch in Schulen bis Mitte der sechziger Jahre in Deutschland gang und gäbe gewesen.
Ein Leidensgenosse von Marlis Weinhold hatte 1969 gegen die damals schon suspendierte Heimleiterin, die sich Tante Gerda nennen ließ, einen Prozess wegen Körperverletzung und seelischer Grausamkeit in mindestens 19 Fällen angestrengt. Das Gericht folgte dem Plädoyer des Rechtsanwalts, der sagte, Tante Gerda sei überfordert gewesen, und sprach sie frei.
Über diesen Freispruch ihrer Peinigerin, die vor einigen Jahren in Paderborn verstorben war, ist Marlis Weinhold immer noch verbittert. Tante Gerda war auch ihr Vormund gewesen, denn als sie 1942 in Bochum als uneheliches Kind geboren worden war, war sie sofort weg gegeben worden. Drei Jahre lebte sie in einem Heim in Bottrop, zwischen ihrem dritten und ihrem 22. Lebensjahr hatte sie dann die Torturen im Heim Marienfrieden zu erdulden.
»Tante Gertrud hatte ihre ÝKlopppeitscheÜ, einen Stock mit daran geknoteten Lederhänden, immer dabei. Geschlagen wurde bei dem geringsten Anlass«, erinnert sie sich. Tante Gerda habe sich aufgeführt »wie eine Furie«. Auch empfindliche Körperstellen hat sie dabei nicht verschont«. Habe ein Kind ins Bett genässt, sei es geschlagen worden, wenn die Wollunterhose vergessen worden sei, habe es Schläge mit der »Klopppeitsche« gegeben.
Und: »Wenn wir als Kinder nicht parierten, hetzte sie manchmal ihren Schäferhund Lux auf uns, der uns ansprang, die Zähne bleckte und fürchterlich knurrte.«
Eine ärztliche Versorgung der entstandenen Verletzungen habe es nicht gegeben. »Wenn Prügelspuren zu offensichtlich gewesen waren, mussten wir der Schule fernbleiben«, beschreibt sie das Ausmaß der Qual. Die Ursache für ihre jetzige Schwerhörigkeit auf beiden Ohren sieht sie in den häufigen Schlägen .
Tante Gertrud habe ihre Launen an ihren Zöglingen ausgetobt: »Wenn es ihr danach war, hat sie uns auch das Essen verweigert und wir mussten hungrig ins Bett. In der Schule sammelten Lehrer die Pausenbrote anderer Schüler für uns ein«. Und: Ihre Mutter habe sie nie besuchen dürfen, obwohl sie an Besuchstagen gerne gekommen wäre. Das macht sie jetzt noch traurig: »Sie ist gestorben, ohne dass ich sie jemals gesehen habe.«
Von früh bis spät hätten die Kinder und Jugendlichen im Heim arbeiten müssen: »Neben dem Hausputz war ich im Garten, auf dem Feld, in der Wäscherei und im Schweinestall tätig. Geld haben wir nicht dafür bekommen. Deshalb will sie jetzt, wie andere Heimkinder auch, entschädigt werden. »Ich lebe von einer Minirente«, sagt sie, die seit 26 Jahren mit dem früheren Stellmacher Herbert Weinhold verheiratet ist. Einen Beruf hatte sie nicht gelernt, als sie als 22-Jährige Marienfrieden den Rücken kehren durfte. In den achtziger Jahren kam sie nach Bad Driburg und arbeitete unter anderem in Kliniken als Hilfskraft.
»Wir werden unsere Empörung deutlich zum Ausdruck bringen«, sieht sie der Heimkinder-Demonstration in Berlin gespannt entgegen. Eigentlich habe sie die Hoffnung begraben gehabt, noch einmal für ihr Recht zu kämpfen.
Westfalenpost, 07.10.2010